#ERSATZHANDLUNGEN

hashtag-confusionLive-Ticker: Griechenland–Mazedonien–Serbien–Ungarn–Österreich–Deutschland. Wie meistern die Flüchtenden wohl die nächste Hürde – oder den nächsten Zaun? Gibt es schon ein neues Bild, um das die Welt trauern kann? Wie verhalten sich nun die Politiker angesichts dieser Tragödie? Das ist alles sehr ungerecht; #refugeeswelcome!

Ungefähr so erscheint mir die allgemeine Stimmung bezüglich des produzierten“Flüchtlingsdramas“ in und um Europa. Es ist seit Monaten Kassenschlager-Thema in den Medien und alle wissen bestens Bescheid; Schuld sind entweder die Schlepper, die korrupten Regime, die ausbeuterischen Konzerne, oder gar doch die Kolonialisierung Afrikas durch europäische Staaten und deren Militarisierung der EU-Aussengrenzen und Installierung neuer Riesen-Lager auf afrikanischem Boden mithilfe der dortigen Regierungen. Alle wissen sie Bescheid, alle sind sie empört…

Doch warum genau jetzt?

Oder besser gefragt, erst jetzt? Es scheint, als ob die Repräsentation der vermeintlichen Realität, also die gesamte Medien- und Kulturlandschaft, noch kompetenter darin geworden ist, durch detaillierteste Schilderung und Inszenierung des Elends anderer – eines neuartigen Voyeurismus könnte man sagen – in der Gesellschaft zwei wesentliche Reaktionen, die aneinander gekoppelt sind, hervorzurufen: Humanitäre Betroffenheit und Akzeptanz der herrschenden Umstände. Diese treten momentan ein bisschen überall auf:

In England „solidarisieren“ sich tausende Menschen via Facebook-Gruppen mit den Migrant_innen in Calais, während dessen vor Ort die Polizei den Terror gegen diese fortführt und die französisch-englische Politik das totalitäre Terrain weiter präpariert. In Deutschland und Österreich heissen voyeuristische Linke ankommende Migrant_innen an den Bahnhöfen willkommen, immer auf dem neusten Stand durch den digitalen Flüchtlingsstrom-Live-Ticker. Und in der Schweiz rufen Hinz und Kunz dazu auf, diesen armen Besitzlosen doch bitte ein wenig Almosen mittels alten Kleidern etc. hinzuwerfen, um das eigene schlechte Gewissen zu beruhigen und grosszügig etwas von seinem kleinen Reichtum abzugeben; stets auf der Suche nach Frieden und Nächstenliebe, und dass alles so bleibt wie es ist. Diese Sucht nach gesellschaftlicher Harmonie negiert nicht nur die Tatsache, dass Unterdrückung und Ausbeutung Basis dieser Gesellschaft sind und daher einen grundsätzlichen Konflikt produzieren, sondern führt konkret eben zu solchen Ersatzhandlungen, die eigentlich nur dem Selbstzweck dienen, sich von anderen abzuheben. Dazu braucht es halt mal die Kreirung eines Opfers, dass in der geflüchteten Person gefunden wird und der man helfen kann.

Doch der Fakt, dass Grenzen ein menschliches Konstrukt sind und zur Sicherung der Privilegien dienen; dass die Schweiz wissenschaftliche Forschung und Entwicklung zur Grenzsicherung an den EU-Aussengrenzen fördert, ja sogar einer der wichtigsten Zuliefer-Staaten von Wissen und Kapital ist; dass Frontex personell, finanziell wie auch logistisch von der Schweiz mitgetragen wird; dass die Polizei täglich Menschen ohne (gültige) Papiere kontrolliert, entwürdigt, einsperrt und ausschafft; dass die hiesige Politik einen riesigen Verwaltungsapparat betreibt, der Migrant_innen kategorisiert, interniert, ausbeutet und diszipliniert; dass die Ökonomie und somit auch die EU und die Schweiz von „illegaler Migration“ profitiert, da solche Menschen viel skrupelloser im Arbeitsprozess ausgebeutet werden können – all das wird von den empörten und humanitären Bürgern gekonnt ignoriert. Denn sich damit auseinander zu setzen, würde bedeuten, die sogenannte Freiheit, die Demokratie, in der wir hier leben, als umzäunten und kontrollierten Spielplatz zu verstehen, der nur durch Ausschluss und Repression existieren kann.

Sich dem Konflikt stellen

«Aber wir leben in so schlimmen Zeiten voller Gewalt, da muss man doch friedlich sein und als gutes Beispiel vorangehen…» Es ist genau diese Mentalität, die sich dem Konflikt, der nun halt einfach besteht, ob man ihn wahrhaben will oder nicht, entzieht und dadurch mehr oder weniger bewusst, eine passive und akzeptierende Position bezieht. Und wenn diese kleine Insel des Friedens, wo alles über den politischen Dialog, Kompromissbereitschaft und Delegation ausgehandelt wird, als operativen Terror gegen alles, was sich widersetzt, nicht anpasst oder nicht verwertet werden kann, verstanden wird, eröffnet sich ein Raum, den es mit offensiven, selbstbestimmten und aufrührerischen Ideen zu füllen gilt. Und nein, die Sabotage, die Revolte und alles, was diesen Terror zu stören vermag, ist keine konsumierbare Ware und wird es auch nie sein! An der ungarischen Grenze leisten gerade jetzt dutzende von Menschen illegale Fluchthilfe; überall werden persönliche Kontakte mit Geflüchteten geknüpft und direkte Solidarität gelebt; Menschen gehen ungefragt auf die Strasse, um der Politik eine Absage zu erteilen; Unternehmen und Institutionen, die Geflüchtete unterdrücken und ausbeuten, werden direkt angegriffen und sabotiert. Du siehst, es geht um dich, um mich, um uns. Selbst anfangen zu denken, mit anderen zu diskutieren, subversive Pläne zu schmieden und umzusetzen, damit das gesellschaftliche Räderwerk, der alltägliche Horror gestoppt werden kann– das sind soziale Beiträge, an denen es mangelt. Heucheleien gibt es genug.

oder es wird im Einklang mit polizeilicher Präsenz eine Kundgebung in Zürich für Geflüchtete und gegen deren Verfolgung gehalten. Als ob das noch nicht genug Ersatzhandlung gewesen wäre, lassen die zuvor noch legalen Zuhörer der Kundgebung im Anschluss, während einer „illegalen“ Spontandemo, sich widerstandslos und auf der Suche nach Frieden und Nächstenliebe mit Gummischrot und Pfefferspray von den Cops attackieren und demütigen. Denn es sind genau diese christlichen Werte, diese Ersatzhandlungen, die nicht den geringsten Anspruch erheben, effektiv in den sozialen Konflikt zu intervenieren und all jene zu bekämpfen, die die Gewalt gegen Migrant_innen und all jene, die sich dagegen wehren, organisieren und ausführen.

AUS: “Dissonanz Nr. 10 – anarchistische Zeitung”